von Laura Wagenbrett und Rahel Metzner

Es ist Montagmorgen. Ich treffe Zdravka Kasaliyska in ihrem Büro im Erdgeschoss einer Plattenbauwohnung am Südpark. Die 32-jährige Kulturwissenschaftlerin arbeitet hier als Dolmetscherin für das Projekt SPI der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Halle-Neustadt. Täglich kommen die unterschiedlichsten Menschen mit bürokratischen, aber auch persönlichen Angelegenheiten zu ihr. Ein Anliegen teilen sie alle: Gemeinsam wollen sie die sprachliche Hürde überwinden.

Zdravka Kasaliyska im Südpark in Halle. (Foto: Rahel Metzner)

Ein Mann kommt mit einem Stapel Briefe vom Jobcenter herein. Zdravka spricht mit ihm auf Rumänisch, sie kennt ihn schon länger. In diesem Moment wird auch mir bewusst, wie groß die sprachliche Hürde eigentlich ist. Selbst ich als Muttersprachlerin habe oft Probleme, das sogenannte ‚Beamtendeutsch‘ zu entziffern. Wie erst ergeht es dann Menschen, die nicht nur die Sprache nicht sprechen, sondern für die auch die Systeme neu, kompliziert und unverständlich erscheinen?
Schnell merke ich, dass Zdravkas Arbeit mehr ist als nur die reine Übersetzertätigkeit. Sie muss sich in die unterschiedlichsten Sachverhalte und Themen einarbeiten, sie braucht Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis, gute Nerven und vor allem Zeit zum Zuhören.

Ich frage Zdravka, wie sie ihre Rolle einschätzt:

 

Eine Vielzahl derer, welche die Hilfe der jungen Bulgarin in Anspruch nehmen, sind Roma. Laut der Beauftragten für Migration und Integration der Stadt Halle (Saale), Petra Schneutzer, leben Menschen dieser Bevölkerungsgruppe seit etwa drei Jahren in Halle. Überwiegend kommen sie aus Rumänien.

Seit April 2016 beschäftigt sich Zdravka intensiv mit den Problemen dieser Menschen. Einige kennt sie schon länger und es haben sich Freundschaften entwickelt.

Als Zdravka 2010 aus Bulgarien nach Deutschland kam, hatte sie bereits im Gymnasium Deutsch als zweite Fremdsprache gewählt. Bei ihrer Arbeit wird ihr immer wieder bewusst, wie elementar es ist, sich in seinem Umfeld verständigen zu können und auch verstanden zu werden. Innerhalb kürzester Zeit hat die Dolmetscherin Rumänisch gelernt. Mittlerweile spricht sie mehrere Sprachen. Ist die sprachliche Hürde erst einmal überwunden, finden die Menschen schnell Vertrauen zu ihr. Sprache öffnet Türen um Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung zu überwinden.

Doch laut Zdravka ist die Finanzierung der Sprachkurse ein großes Problem:

 

Besonders bei Behördenangelegenheiten unterstützt Zdravka viele Roma. (Foto: Rahel Metzner)

Das Projekt der SPI der AWO soll unter anderem die Selbstorganisation der Roma in Halle voranbringen. Zdravka unterstützt die Menschen bei verschiedenen Angelegenheiten, begleitet sie zu Ämtern und hilft bei sämtlichen Problemen.

Die Menschen können Hilfe der jungen Übersetzerin kostenfrei in Anspruch nehmen. Doch laut Zdravka ist das ist eine Ausnahme: Die meisten inoffiziellen Dolmetscher nehmen allein für die Hilfe beim Bearbeiten eines einzelnen Formulars etwa 200 Euro. Für viele Menschen ist dies jedoch der einzige Weg, um staatliche Leistungen zu beantragen oder eine Wohnung zu finden.

Laut Zdravka kann man den Teufelskreis der Menschen so zusammenfassen: Ohne Einkommen können sie die Miete nicht bezahlen. Seit 2017 ist das sogenannte „EU-Bürger-Auschlussgesetz“ in Kraft getreten. Demnach haben EU-Bürger erst nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschand Anspruch auf Sozialleistungen, wie Erik Peter in der taz erklärt. Das trifft auch auf die Roma in Halle, die aus den EU-Ländern Bulgarien und Rumänien kommen. Ohne Sozialleistungen können es sich die Roma jedoch nicht leisten mobil ins Stadtzentrum zu fahren und zu den verschiedenen Ämtern zu gelangen.

Antiromaismus in Halle (Saale)

Aus Angst vor Diskriminierung bekennen sich bis heute viele Sinti und Roma nicht zu ihrer Ethnie. In den meisten Ländern der Welt werden sie aufgrund ihrer vermeintlich anderen, nicht zum Wertesystem passenden Lebensweise, ausgegrenzt und geächtet. Besonders in Osteuropa haben Roma noch immer mit rassistischer Gewalt und Ghettoisierung zu kämpfen. Und auch in Deutschland spielt die Diskriminierung von Sinti und Roma eine große Rolle.

In Halle hat sich die starke Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft besonders in den Ereignissen von 2014 in der Silberhöhe gezeigt. Teilweise hat Zdravka diese Auseinandersetzungen miterlebt.

Zdravka erzählt über die prekäre Situation der Roma in der Silberhöhe:

Nach Angaben der Beauftragten für Migration und Integration der Stadt Halle (Saale) leben die rumänischen Roma nun seit 2015 überwiegend im Südpark in Halle. Laut Zdravka ist das Zusammenleben zwar besser geworden, dennoch hört die von Vorurteilen belegte Diskriminierung aber auch hier nicht auf.

Dies ist nur eine von vielen ausgrenzenden Beschuldigungen, die die deutschen Nachbarn äußern:

Was muss sich ändern?

Das Verhältnis der Deutschen ist von Vorurteilen gegenüber Sinti und Roma geprägt. Auch die Sinti und Roma haben mitunter festgelegte Einstellungen zu Deutschen. Als im Puschkino Halle der Film „Nicht wiedergekommen“  über die Erinnerungen an den Mord an einer Sinto-Familie gezeigt wird, lerne ich Siegfried Franz, den 2. Vorsitzenden der Niedersächsischen Beratungsstelle für Sinti und Roma e.V.  kennen. Siegfried Franz ist Sinto und gehört zu einer im Holocaust nahezu ausgelöschten Familie. Als Kind kannte er ‚die Deutschen‘ nur als Täter und Mörder seiner Familie. Siegfried Franz wollte nicht pauschal über Menschen urteilen, dennoch empfand er Hass.

„Für mich war alles Nazi, alles fürchterliche Menschen. Ich konnte gar nicht anders denken.“

Siegfried Franz

Als er dann in der Schule den deutschen Jungen Wolfgang kennenlernte und eine enge Freundschaft mit ihm schloss, veränderte sich sein Blick auf die Deutschen. „Man muss Menschen kennenlernen!“, weiß Siegfried Franz seitdem und stellt diese Erkenntnis auch an das Ende seiner Rede im Kino.

Ich habe Siegfried Franz in Hannover besucht und ihn gefragt, was er sich für die Zukunft wünscht:

Damit sich Menschen begegnen, die sonst nicht zusammenkommen würden, braucht es geeignete Plattformen. So ist auch innerhalb des Projekts der AWO ein Treffen für die Bewohner im Südpark von Halle geplant. Dabei soll die Zusammenkunft von deutschen Anwohnern und den Roma im Fokus stehen. Denn nur, wenn wir aufeinander zugehen, kann ein friedliches Zusammenleben entstehen.

Doch nicht nur die Integrationsarbeit soll einen Beitrag für ein besseres Miteinander leisten. Jeder ist gefragt. Denn das Ergründen der ‚richtigen‘ Bezeichnung und Aufzeigen der vermeintlichen Unterschiede zwischen unseren Kulturen sollte nicht der Fokus sein – vielmehr geht es darum, dass wir lernen sollten, uns anzunähern und mit verschiedenen Kulturen auseinanderzusetzen, um ein besseres Zusammenleben zu schaffen, in dem jeder Mensch sein kann. Um eine Gleichwertigkeit in unserer Gesellschaft zu schaffen, sollten nicht wir versuchen, den Menschen eine Stimme zu geben, sondern sie selbst zu Wort kommen lassen.

 

Wer sind „die Sinti und Roma“?

Roma zur NS-Zeit in Halle, links oben ist die Hakenkreuzflagge zu sehen. Etwa 500.000 Sinti und Roma wurden von den Nationalsozialisten ermordet. (Foto: Stadtarchiv Halle)

Der Historiker Andrej Stephan forscht am Institut für Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Thema ‚Innere Sicherheit‘. Ich habe mit ihm über die Geschichte der Diskriminierung von Sinti und Roma gesprochen.

Bei einem Treffen mit Gjulner Sejdi von Romano Sumnal in Leipzig habe ich einen Einblick in die Arbeit des Vereins bekommen. Sejdi selbst ist Roma und setzt sich aktiv dafür ein, dass besonders in der Region Mitteldeutschland der Austausch zwischen der Mehrheitsgesellschaft und Sinti und Roma stärker wird.

Über die rot markierten Image Hotspots können Sie einen Einblick in die Gespräche mit den beiden Experten bekommen. Außerdem äußert sich Siegfried Franz zu der Bezeichnung „Zigeuner“ und erklärt, weshalb sie diskriminierend wirkt.

 

 

Ein Bild von Sinti und Roma manifestieren zu wollen, liegt nicht in meinem Sinne. Denn ein Bild von etwas kann man sich nur selbst machen, wenn man in direkten Kontakt mit Menschen tritt. Die im Folgenden dargestellten Hintergrundinformationen sollen lediglich dazu dienen, einen kleinen Überblick der Geschichte dieser stark diskriminierten Minderheit zu zeigen. Denn ausgegrenzt statt anerkannt sind sie bis heute.

Bereits seit dem Mittelalter leben Sinti und Roma in Europa, ihre Ahnen kamen ursprünglich aus Indien bzw. dem heutigen Pakistan. Sinti und Roma ist eine Gesamtbezeichnung für ethnische Minderheiten, die sich traditionell durch eine gemeinsame Sprache – das Romanes – und eine gemeinsame Kultur und Geschichte dem Volk der Roma zugehörig fühlen.

Jedoch können sich Tradition, Bräuche, Religion und Sprache je nach Herkunft bzw. Heimatort unterscheiden, zumal sich darunter natürlich viele verschiedene Individuen befinden.

Bei den Roma werden Frauen als Romni und Männer als Rom bezeichnet. Bei den Sinti ist die männliche Bezeichnung Sinto, die weibliche Sintezza. Viele Sinti tragen neben ihrem deutschen auch einen Romanes-Namen, den sie nur innerhalb der Familie benutzen.

Quelle: https://www.bpb.de/internationales/europa/sinti-und-roma-in-europa/179536/ein-unbekanntes-volk-daten-fakten-und-zahlen?p=all

Gjulner Sejdi vom Projekt Romano Sumnal in Leipzig erklärt den Unterschied zwischen Sinti und Roma:

Für viele Sinti und Roma ist die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ beleidigend, da dieser mit negativen Klischeebildern und Vorurteilen einhergeht.
Außerdem wurden sie unter dieser Bezeichnung von den Nationalsozialisten verfolgt.

Der Ursprung des Wortes liegt vermutlich in dem altgriechischen Wort „athinganoi". Übersetzt heißt es „die Unberührbaren" und hat somit eine abgrenzende und negative Bedeutung.

Die Aktivisten welche 1971 am ersten Weltkongress der Roma-Nationalbewegung in London teilnahmen, einigten sich auf den Begriff „Roma". „Sinti und Roma" bezieht jene Menschen mit ein, deren Angehörige seit etwa 600 Jahren hauptsächlich im deutschsprachigen Raum leben.

Sinti und Roma werden schon seit Jahrhunderten fremdbestimmt. Wir als „Gadje“, die Mehrheitsgesellschaft, wissen viel zu wenig, reden aber immer wieder über sie. Das Wissen über Sinti und Roma wird oft an rein äußerlichen Merkmalen und basierend auf den über Jahrhunderte weiter getragenen Stereotypen festgemacht. So sind sowohl die Bezeichnung „Zigeuner“, als auch die Begriffe "Sinti und Roma" aus einer Fremdbezeichnung entstanden. Wer zwingend eine ethnische Bezeichnung treffen möchte, sollte allerdings die Bezeichnung "Sinti und Roma" verwenden.

Wichtig ist, dass man immer zwischen Fremd- und Selbstbestimmung unterscheiden und nicht wahllos alle Menschen, die in das eigene, optische Raster passen, als „die Sinti und Roma“ bezeichnen sollte.

Wir können nicht für andere Menschen entscheiden, wie sie heißen. Jegliche Fremdbezeichnungen schaffen immer wieder Mauern zwischen Menschen.

Quellen:
https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/BPB_Flyer%20Demokratietrainer_Antiziganismus_WEB.pdf
https://mediendienst-integration.de/artikel/das-comeback-der-zigeuner.html
http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/warum-ich-das-nicht-mehr-hoeren-will-teil-2-zigeuner

Sinti und Roma haben keine eigene Religion. Unter ihnen befinden sich z.B. Katholiken, Evangelen sowie Muslime.

Quelle: https://www.bpb.de/internationales/europa/sinti-und-roma-in-europa/179536/ein-unbekanntes-volk-daten-fakten-und-zahlen?p=all

1498 erklärte der Reichstag in Freiburg die Sinti und Roma für vogelfrei. Daraus resultierten Gesetze deren nach Sinti vertrieben, ausgeplündert und getötet werden durften und es ihnen verboten war ein Handwerk auszuüben, sesshaft zu werden und Grundbesitz zu erwerben.

Im Zeitalter der Aufklärung folgten staatliche Maßnahmen wie Zwangsansiedlungen, Sprachverbot und die Wegnahme der Kinder. Gleichzeitig trug antiziganistische Literatur dazu bei, falsche Informationen und Vorurteile zu verbreiten. Vielen Sinti und Roma wurde somit die Niederlassung als auch die Staatsbürgerschaft verwehrt. Selbst Sinti und Roma, welche schon lange in Deutschland lebten wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Auf die damaligen systematischen Erfassungen von Sinti und Roma der Behörden griffen später die Nazis zurück.

Nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze im Jahre 1935 wurden von vielen Städten Lager eingerichtet, in denen Sinti und Roma interniert wurden und unter Zwangsarbeit, Misshandlungen, Hunger und medizinischen Versuchen leiden mussten.

Etwa 500.000 Sinti und Roma wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Der Völkermord aus rassistischen Gründen an den Sinti und Roma wurde jedoch jahrzehntelang geleugnet. So stand den Überlebenden weder eine Entschädigung noch die moralische Anerkennung als Opfer zu. So nahm die Diskriminierung auch nach NS-Zeit kein Ende. So blieben beispielsweise viele Sinti und Roma jahrzehntelang staatenlos, da ihnen in der NS-Zeit die Staatsbürgerschaft entzogen worden war, Außerdem wurde die polizeiliche Erfassung fortgesetzt, und zwar teilweise vom gleichen Personal welches die Deportationen vollzog. Wie uns der Sinto und Zeitzeuge Siefried Franz bestätigte, mussten zudem Überlebende und ihre Nachkommen in unwürdigen, ghettoartigen Baracken hausen und waren somit weiterhin gesellschaftlicher Ausgrenzung ausgesetzt.

Und bis heute sind viele, besonders in Osteuropa, immer noch Vorurteilen und Rassismus ausgesetzt und befinden sich daher oftmals in einem Teufelskreis, welcher zu Arbeits- und Wohnungslosigkeit bzw. prekären Wohnverhältnissen führt.

Quelle: https://www.planet-schule.de/wissenspool/spuren-der-ns-zeit/inhalt/hintergrund/sinti-und-roma.html

Viele Sinti und Roma lebten lange Zeit als fahrende Händler, Musiker oder Schausteller. Das ist vor allem darin begründet, dass sie seit 1498 diskriminiert wurden und daher nicht ansässig werden sowie viele Berufe nicht ausüben durften.
Das Nomadentum wurde ihnen somit zunächst aufgezwungen und später zum Vorwurf gemacht.

Inzwischen haben zwischen 95 und 98 % der in Deutschland und weltweit lebenden Sinti und Roma einen festen Wohnsitz.

Quellen:
https://www.planet-schule.de/wissenspool/spuren-der-ns-zeit/inhalt/hintergrund/sinti-und-roma.html
https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/BPB_Flyer%20Demokratietrainer_Antiziganismus_WEB.pdf

 

 

 

 

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