von Mathilde Kowalski und Marie Schultz
Anonyme Städte – anonyme Nachbarn
Oft kennt man sie nicht, aber weiß doch viel über sie: welche Musik sie hören, wann sie staubsaugen und noch weit Intimeres. Dabei teilt man häufig nicht mehr als die Wand mit der Nachbarin oder dem Nachbarn.
Wie wird Gemeinschaft in immer anonymer werdenden Städten gelebt, in denen man seine Nachbarinnen und Nachbarn nur noch vom Sehen kennt? Wo findet Nachbarschaft statt und wie gestaltet sie die Stadt aktiv mit?
In Halle gibt es ein Viertel, in dem die Nachbarschaft in den letzten Jahren ein Update bekommen hat. Um herauszubekommen, wie Gemeinschaft dort gelebt wird, haben wir uns mit den Postkult e.V. – Mitgliedern Jens Wulfänger (38), Regina Gottschlich (52), Albrecht Brandt (20) und Renate Schramm (60) in Glaucha getroffen. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein, eines aber haben sie gemeinsam: In ihrer Freizeit setzen sie sich alle für eine aktive Nachbarschaft ein.
Glaucha ist ein Randgebiet im Süden Halles, das Zentrum und Silberhöhe verbindet. Das Viertel hatte immer wieder mit Abwanderungen zu kämpfen, wie die Studie „Sozialraum Glaucha“ der Internationalen Bauausstellung ergab. Die Studie zeigte zudem, dass es sich hier um einen sozial und finanziell geschwächten Stadtteil handelt: Der Anteil der Arbeitslosigkeit lag 2007 bei 14%, gut 30% der Anwohner und Anwohnerinnen lebte in einer Bedarfsgemeinschaft, Familien und Kinder fehlen in der Umgebung. Nachbarschaftliche Strukturen konnten nicht gefestigt werden, da 62% der Bewohner und Bewohnerinnen weniger als fünf Jahre in Glaucha wohnte. Alles in allem bestand wenig sozialer Rückhalt in der Nachbarschaft, umso dringlicher war hier also der Handlungsbedarf.
2007 haben Studentinnen und Studenten den Postkult e.V. gegründet, um auf den Leerstand in Halle (Saale) aufmerksam zu machen. Ihre Idee: Leerstehende Räume mit soziokulturellen Projekten füllen. Damit haben sie im alten Postamt in der Triftstraße begonnen und sind mit ihren Projekten auf viel Begeisterung gestoßen. 2009 hat es sie und den Verein nach Glaucha gezogen, wo sie seit 2011 ein großflächiges Vereinsgelände ihr Eigen nennen dürfen. Heute reichen ihre Projekte von einem Stadtgarten mit kostenlosen Beeten über einen Umsonstladen, von einer Fahrradwerkstatt bis hin zum Fahrradkino.
Eine Bestandsaufnahme
Wie denken die Menschen, die sich für eine aktive Nachbarschaft einsetzen, über Stadtgestaltung? Und welche Form kann Nachbarschaft in Halle annehmen? Darüber haben wir mit Jens, Regina, Albrecht und Renate gesprochen und sie gefragt, ob es heute noch Nachbarschaft braucht und wer in ihren Augen die Stadt gestaltet.
„Es ist schwierig, die Leute aus den Wohnstuben raus zu bekommen.Verlasst eure Wohnzimmer und kommt rein in den Freiraum, den wir versuchen zu gestalten und genießt diesen Freiraum. Oder helft mit, ihn zu gestalten.“
Jens Wulfänger
„Die ideale Nachbarschaft, das wäre, wenn die Menschen wieder zueinanderfinden.“
Regina Gottschlich
„Ich finde es sehr wichtig, etwas für meine Nachbarschaft zu tun. Erstens fühle ich mich integriert, ich fühle mich verstanden, ich hab´ soziale Kontakte. Du kennst dich dann im ganzen Netzwerk aus. Du kommst dir nicht überflüssig vor, sondern du wirst gebraucht. Du fühlst dich einfach wohl und nicht nur das, du lernst auch viel.“
Renate Schramm
„Alle gestalten das Stadtbild mit. Allein dadurch, dass man irgendwo lang läuft sorgt man für das Stadtbild. Ob Punks oder ein gut gekleideter Geschäftsmann – die haben ja alleine Ausstrahlung, die auf einen wirkt und die zum Stadtbild gehört.“
Albrecht Brandt
In der Stadtgestaltung sind wir noch weit zurück
Regina und Renate, Jens und Albrecht, sie alle blicken eher bescheiden auf ihren Einfluss in der Stadtgestaltung. Was sie in der Nachbarschaft bereits erreicht haben, wissen sie jedoch. Die Möglichkeiten der Stadtgestaltung schätzen alle vier ganz unterschiedlich ein. Sie scheitere vor allem immer wieder an rechtlichen Vorgaben der Stadt, so Renate.
Jens, der im Vorstand des Vereins ist, sieht die Schwierigkeiten eher bei den Anwohnerinnen und Anwohnern. Generell nehme hier das Interesse an gemeinschaftlichem Beisammensein ab. Daher versuche der Verein weiterhin, Anreize und Räume zu schaffen, um alle in der Nachbarschaft anzusprechen.
„Jeder hat die Verantwortung, die Stadt mit zu gestalten. Jeder darf sie auch mitgestalten.“
Jens Wulfänger
Er ist sich sicher, dass jeder das Stadtbild verändern kann und sogar eine Verantwortung hierfür trage. Aus Reginas Sicht greifen Stadtgestaltung und Nachbarschaft ineinander. Für sie ist klar, dass der Postkult e.V. das Viertel mitgestaltet.
Für Renate, die regelmäßig im Umsonstladen aushilft und selber in Glaucha wohnt, ist es aus persönlichen Gründen elementar, sich in ihrem Viertel einzubringen und so ihre ihre Mitmenschen besser kennenzulernen. Besonders über die Geflüchteten und ihre Schicksale erfahre man so sehr viel mehr. Mit der Stadtplanung in Halle ist die 60-Jährige nicht glücklich. Sie ärgere sich vor allem über Bauprojekte, die mit immensen Kosten verbunden und optisch nicht ansprechend seien. Viel eher solle man junge Leute „mit ihren lustigen Ideen“ in die Stadtgestaltung miteinbinden.
Bei einem sind sich die vier jedoch einig: Eine gute Nachbarschaft ist heute noch genauso wichtig wie damals.
Wie Nachbarschaft die Stadt gestaltet
Wenn es nach Renate ginge, sollte die Nachbarschaft überall so sein wie im Glauchaviertel.
Doch Glaucha war nicht immer so bunt, wie es sich heute zeigt. Das Stadtviertel hat einen tiefgreifenden Wandel erlebt. Bereits vor der Reformation war Glaucha eine heruntergewirtschaftete Amtsstadt, im 17. Jahrhundert herrschte Alkoholismus unter den Anwohnerinnen und Anwohnern, wie es Elke Hartmann in ihrem Aufsatz zu Franckes Pädagogik beschreibt. 1682 griff die Pest um sich und machte tausende Kinder zu Waisen. Der Pfarrer August Hermann Francke ließ daraufhin 1698 eine Armenschule für sie erbauen. Mit der Zeit wandelte sich das Viertel zu einer Arbeitersiedlung, deren Bewohnerinnen und Bewohner hochmütig ‚Glauch´scher Adel‘ genannt wurden.
In den letzten Jahren haben hier vor allem Leerstand und marode Bauten das Stadtbild geprägt.
Der ‚Glaucha-Effekt‘
2009, als der Leerstand in Glaucha bei 30% lag, hat eine Sanierungswelle das Viertel erreicht. 2010 ist dann auch ein Ruck durch die Torstraße gegangen: die Internationale Bauausstellung (IBA) begann hier, zunehmend Projekte und Sanierungen zu fördern, wie der Journalist Michael Falgowski in der Mitteldeutschen Zeitung berichtete.
Heute gilt Glaucha als Positiv-Beispiel einer aktiven Stadt-mit-gestaltung, es wird bei der Stadt Halle (Saale) sogar vom ‚Glaucha-Effekt‘ oder dem ‚Wunder von Glaucha‘ gesprochen. Immer mehr Studentinnen und Studenten zieht es in die Gründerzeithäuser und durch die zunehmenden Projekte gewinnt Glaucha immer weiter an Zulauf und Zusammenhalt.
Inzwischen reihen sich sanierte Gründerzeithäuser an heruntergekommene, leerstehende Häuser. Dort wo einst Margot Honecker wohnte, prangt jetzt der Parkplatz einer bekannten Supermarktkette. Plattenbauten stehen neben Brachflächen. Einer solchen hat sich 2009 der Verein Postkult angenommen. Besonders durch das Engagement und die Projekte des Vereins sind die Bewohnerinnen und Bewohner näher aneinander gerückt und gestalten ihr Viertel nun gemeinsam aktiv mit. So haben sie Brachflächen und leerstehende Häuser wiederbelebt und als Plattform für Nachbarschaft im Sinne der Anwohnerinnen und Anwohner umfunktioniert.
Sichtbare Nachbarschaft
Bunte Wände, Gemüsebeete, Konzerte, Flohmärkte, Filmabende: in Glaucha kann man Nachbarschaft sehen. Hier gestaltet sie aktiv das Viertel mit und nimmt die vielen Farben und Formen an, die ihr die Anwohnerinnen und Anwohner geben.
Nachbarschafts-Projekte in Halle (Saale)
Die Plattform Nebenan stärkt Nachbarschaft digital, damit sie auch analog funktioniert. Das Portal hilft dabei, mit seinen Nachbarinnen und Nachbarn in Kontakt zu kommen und gemeinsam Projekte und gegenseitige Unterstützung zu initiieren.
In Halle gibt es so viele wie verschiedene Möglichkeiten, sich vor Ort für seine Nachbarschaft einzubringen und so sein Umfeld aktiv mitzugestalten. Die Stadtkarte verrät, welche Projekte es gibt und wo sie stattfinden.